Ich habe Ihn nicht gemocht. Von Anfang an nicht. Dieses Selbstverständnis, mit dem Er zum ersten Mal zu uns ins Training kam. Dieses Siegerlächeln von Ihm. Seine Gestik und Mimik, die Unwiderstehlichkeit zur Schau stellten. Nicht einmal sich uns vorgestellt hat Er. So wie es Alle tun, wenn sie das erste Mal zu uns kommen. Er nicht. Einer wie Er geht davon aus, dass Ihn alle kennen. Und nicht wenige kannten Ihn wirklich.
Wo Er in der Kabine saß, war es immer laut. Vor allem durch Gelächter, das sich eher intensiv als authentisch anhörte. Die Plätze um Ihn herum waren gleichermaßen gefragt wie schnell belegt. Auf dem Platz folgten sie schnell Seinem Kommando. Eine Rolle, die Er unaufgefordert nach kurzer Zeit übernommen hatte.
Ich habe nie viel mit Ihm geredet. Wenn es mal vorkam, guckte Er oft irgendwo herum und fing meistens mit anderen an zu reden. Ich glaube nicht, dass Er mich nicht mochte, ich denke, ich war für Ihn wie die meisten für Ihn. Welche, die einfach da waren. Die meiste Zeit hat ohnehin Er geredet. Meistens mit Denen, die Er schon ewig kannte. Mit Denen hat Er sich auch regelmäßig getroffen. Zum Kartenspielen, zum Stammtisch und zu sonstigen Dingen, die solche wie Er eben tun.
Es gab Die, die jeden Freitag zum Training kamen und es gab Ihn, der dort hin und wieder in Erscheinung trat.
So ging alles seinen Weg. Über Jahre. Irgendwann hat Einer von uns eine Kiste Bier mitgebracht, deren Inhalt wir nach dem Training tranken. Am Freitag danach revanchierte sich ein Anderer mit einer Kiste, am Freitag drauf ein Nächster, und so kam es, dass wir, nachdem die Kiste Bier Danach zu so etwas wie einem Ritual wurde, im Laufe der Zeit nach dem Training immer noch zusammensaßen. Nicht alle, aber viele.
Wenn Er zum Training kam, blieb er meistens auch auf ein Bier, sah während des Austrinkens ständig auf sein Handy, tippte darauf herum und verschwand dann. Mitgebracht hat Er meines Wissens nie eins.
Manchmal hatten wir auch eine zweite Kiste und entsprechend lange saßen wir dann noch zusammen. Ich genoss das sehr. Die von mir gegründete Firma war noch jung und ich verbrachte weite Teile meiner Zeit in ihr. Den Freitag Abend jedoch hielt ich mir immer frei. Zum Einen konnte ich mich da nach einer Woche im Büro intensiv austoben, zum Anderen war das anschließende Zusammensitzen und Reden mit meinen Jungs eine wunderbare Abwechslung zu meinem Geschäfts-Alltag. Aus diesem Grund gehörte ich auch fast immer zu den Letzten, die am Freitag nach Hause gingen.
Es war der letzte Freitag Abend im September als sich nach dem Training immer mehr Spieler verabschiedeten und es kam, dass ich mit Ihm alleine in der Kabine saß. Ich trank zügig aus und sortierte schnell die herumstehenden Flaschen in die Kiste, um zu gehen, als Er mich fragte, wie lange ich schon im Verein sei. Ich gab Ihm die gewünschte Antwort, nahm meine Sporttasche und die Bierkiste um zu gehen, da fragte er mich, ob ich nicht noch Zeit hätte, mit ihm ein Bier zu trinken. Ich stellte die Kiste ab, zog meine Jacke aus und öffnete 2 Flaschen. Als ich ihm eine reichte, sah ich ihm kurz in die Augen und nahm wahr, dass sie gerötet waren. In seinem Gesicht, in das ich blickte, die pure Verzweiflung und ich wusste, was zuvor passiert war, er hatte geweint.
Ich wich schnell seinem Blick aus und fing an zu erzählen, wie es damals im Verein zuging als ich anfing. Als ich merkte, dass ihn so manche Anekdote amüsierte, nahm ich es mit der Wahrheit nicht immer mehr ganz genau, und je mehr ich merkte, dass sie ihm gefielen, desto mehr verselbständigten sich meine Stories zu irgendwelchen Begebenheiten, deren alleiniges Ziel es war, ihn aufzumuntern.
Meine Munition an mehr oder weniger aufgebauschten Anekdoten war irgendwann erschöpft. Mir fiel nichts mehr ein und ich sah an mir hinunter. Tat so, als mustere ich interessiert das Etikett meiner Bierflasche, als er mich fragte, ob ich das Gefühl kenne, dass man immer auf 100 Prozent und mehr laufen müsse, damit Alle das bekämen was sie von Einem erwarten.
Ich war von dieser Frage überrascht, Derartiges war mir völlig fremd und ich sah ihn nur kurz vorsichtig an und sagte Nein. Dies wiederum schien ihn zu erstaunen und er fragte, ob ich es auch nicht kenne, dass man Dinge tut und Sachen sagt, von denen man glaubt, dass sie von Einem erwartet werden. Und das, was Andere in Einem sehen, bestätigen. Unabhängig davon ob sie immer wahr sind.
Ich ging davon aus, dass er in diesem Moment nicht wirklich eine Antwort von mir erwartete und so sagte ich nichts und ließ ihn reden.
Er sprach davon, wie anstrengend es ist, stets den Mythos mit Leben zu füllen, den man einst von sich schuf.
Über den immensen Aufwand, den man immer abrufbereit zu leisten hatte, um zu jeder Zeit das Bild, das man von sich aufgebaut hatte, zu dokumentieren. Davon, Diejenigen rund um die Uhr zufrieden zu stellen, die genau dieses Bild stets von Einem erwarteten und nachgewiesen haben wollten, da sie sich aus diesem Grund mit Einem umgaben.
Über die Mühen, die es Einen kostete, in jeder Minute seines Lebens die von sich selbst in sich gesteckten Erwartungen zu erfüllen.
Der kaum noch nachzukommenden Energie, der es zu jedem Moment des Daseins bedurfte, immer den Schein zu wahren, die die Art und Weise, wie man sich darstellte und präsentierte, hervorrief.
Stets all das zu demonstrieren, was Alle in Einem sahen und von ihm erwarteten. Nie Auszeit. Selbst zuhause nicht. Seiner Frau hatte er sich bei ihrem Kennenlernen ebenfalls als Kultfigur präsentiert und sie so von sich überzeugt. Auch da laufe das Programm des ständigen Gerechtwerdens von selbst inszenierten Illusionen; etwas Anderes wolle er nicht riskieren, sie kenne ja nur dieses Bild von ihm.
Er mache dies so, seit er denken kann. Und hat es über die Jahre perfektioniert.
Doch jetzt könne er nicht mehr. Das Spiel sei vorbei. Er sei im Höchstmaß erschöpft und habe sich komplett verausgabt.
Doch wo sei der Weg.
In der Einbahnstraße verrannt. Gefangen im eigenen Mythos, den man einst von schuf. Sich dabei bis weit über die eigenen Grenzen hinaus verbraucht.
Er habe es schon seit längerer Zeit gespürt und heute zum ersten Mal erkannt, dass er sich beim Aufbau und der Aufrechterhaltung der eigenen Kult- und Kunstfigur derart verschlissen hat, dass keinerlei Kraft und Energie mehr in ihm vorhanden sei, dies weiterzuführen und ob ich eine Idee hätte, was er nur machen könne.
Er könne sich doch nicht allen Menschen in seinem Umfeld offenbaren und ihnen gestehen, dass er nicht Der ist, der sie glaubten, dass er sei. Was ja bedeuten würde, dass er nicht ehrlich mit ihnen war. Mit Niemandem, nicht einmal mit Denen, die ihm wirklich viel bedeuteten. Und das so lange wie sie ihn kennen. Die Scham einer derartigen Demaskierung könne er nie ertragen und mit den Konsequenzen, wie immer sie im Einzelfall aussähen, könne er niemals umgehen.
Er spüre zunehmend die Bombe, die drohe in ihm zu platzen, so extrem tobe der Kampf in ihm angesichts der Aussichtslosigkeit dieses Dilemmas; einerseits die Kraft für die Aufrechterhaltung des von ihm geschaffenen Mythos nicht mehr aufbringen zu können, andererseits mit den Folgen niemals leben zu können, die eine Beendigung dieses Schauspiels mit sich brächte.
Und ob ich einen Rat für ihn hätte, seine Gedanken drehten sich im Kreis und fänden nicht den Weg raus.
Als ich ging, sagte ich, ich melde mich. Und ich meinte es ernst. Ich hatte spontan keine Antworten. Aber hatte den Vorsatz, welche zu finden. Doch dazu, ihm das, was mir dann einfiel, zu sagen, kam es nicht mehr, 3 Tage nach unserem Gespräch nahm er sich das Leben.