Sichtweisen

Ich wurde gezwungen, die Welt anders zu sehen. Und das von jetzt auf gleich.
Dem, der mindestens 10 Kilometer am Tag gehen muss und der es auch schon mal auf über 30 bringt, zertrümmert es seinen Fuß und er ist von einem Moment auf den anderen gezwungen, sich unvorbereitet und auf unabsehbare Zeit ohne diesen durchs Leben zu schlagen.
Liegen, schonen, Selbstmitleid. Statt gehen und Freiheit nun liegen, erholen und Entmündigung. Krücken und Rollstuhl als engste Verbündete. So oder ähnlich muss eine Kastration sein …

Irgendwann die zu gehenden Kilometer durch den Rollstuhl ersetzt. Alles Gehende gerollert. Und festgestellt, es ist auch schön. Anders schön, aber anders schön ist nichts anderes als eine andere Form von schön.
Und dabei die Menschen von einer ganz anderen, ganz neuen Seite wahrgenommen.

Ich bin noch nie von so vielen, von so jung, so alt, so jugendlich, so was auch immer, freundlich gegrüßt worden. Hunderte Menschen, die ich nie zuvor gesehen habe. Jeder, dem Du im Rolli begegnest, grüßt dich freundlich. Und nicht gerade wenige fragen Dich, ob sie Dir helfen können. Autos, sogar Sattelzüge, steigen in die Bremse, weil sie Dich am Straßenrand sehen und davon ausgehen, dass Du die Straße überqueren möchtest.
Es werden Dir wie selbstverständlich Türen geöffnet, unabhängig vom Geschlecht oder Altersgruppen. Es sprechen Dich Menschen aus Deiner Nachbarschaft an, in deren Nähe Du seit 15 Jahren wohnst und die Dich bisher maximal lapidar gegrüßt haben und Ihr habt ad hoc intensive Gespräche.

Ich hatte nie eine Erklärung dafür, weshalb mir diese anfangs unendlich verhasste Erfahrung eines 2 Mal aufwendig geflickten Bruchs im Fuß verordnet wurde. Heute weiß ich es. Um die Menschen mit einem neuen Blick kennenzulernen.

Ich habe in 13 Wochen nie eine schlechte Erfahrung mit Menschen gemacht, sondern habe sie ausschließlich von einer netten, freundlichen und unglaublich hilfsbereiten Weise kennengelernt. Ich habe erfahren, wie Menschen sein können.
Und mich gefragt, warum sie nur dann so sind, wenn sie auf einen Beeinträchtigten stoßen.
Und mich gefragt, warum ich erst im Rollstuhl landen musste, um sie von dieser Seite zu erfahren.

Ich habe keine Angst mehr vor einer Situation, in der ich hilfebedürftig bin, denn ich habe Menschen von einer Seite kennengelernt, die ich nie für möglich gehalten hätte.

Ich habe vor 13 Wochen den Rollstuhl gehasst, als er kam, dieses sichtbare Zeichen von Hilfebedürftigkeit.
Heute, wo ich ihn zurückgebe, habe ich das Gefühl, einen Freund zu verlieren, jemanden, der mir ganz neue Seiten des Lebens gezeigt und vermittelt hat. Ich möchte diese Zeit niemals wiederholen, aber sie haben mich verändert. Ich habe das Leben aus einer anderen, neuen Perspektive kennengelernt, und damit meine ich nicht nur den Blick von weiter unten aus einem Rollstuhl.
So sehr ich dieses blecherne Etwas einst ablehnte, desto schwerer wird mir der Abschied nachher von ihm fallen. Meinem Wegbegleiter der letzten 13 Wochen. Der sich nicht nehmen ließ, seinen frustrierten Reiter auch ein Mal abzuschütteln. Und der ihm die Welt aus einer neuen Perspektive zeigte. Und vor allem die Menschen.

All diese wunderbaren Erfahrungen hätte ich ohne dieses einschneidende Erlebnis vor über 3 Monaten nie gemacht. Und habe nebenbei gelernt,
alles ist für irgendwas gut, alles, auch was vermeintlich Schlimmes hat seinen Sinn, und es liegt an uns, diesen zu erkennen. Zu erkennen, und für uns was draus zu schöpfen. Denn genau dafür wurde es uns verordnet.

Ich wünsche mir, dass mir die Menschen ab morgen genauso begegnen wie zuletzt, auch wenn ich nicht mehr im Rollstuhl sitzen werde.
In dem Bewusstsein, das sie es können und es ihnen nicht schwer fällt. Ich habe erfahren, dass die Menschen ein großes Herz haben können. Und wünsche mir, dass ihnen dies immer bewusst es und sie es stets einsetzen. Und das nicht nur bei mir, sondern bei jedem von Euch …

Umgekehrt gehört jeder von Euch zu den Menschen, denen ich in den letzten 13 Wochen begegnet bin. Und mit Denen ich all diese wunderbaren, neuen Erfahrungen gemacht habe. Seid Euch daher bewusst, wie Ihr gesehen werdet, wie Ihr wahrgenommen werdet und seid Euch darüber klar, was Ihr könnt und wieviel ihr jeden Tag, Stunde um Stunde zum Glück anderer beitragen könnt.

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